Tragen mehrgewichtige Frauen einen Schmerz in sich?
Als ich neulich in einem Yoga-Magazin den Titel „Viele Dicke tragen einen ähnlichen Schmerz in sich“ 1 las, habe ich überlegt, ob ich dem zustimmen könnte. Wir haben in der Vergangenheit schon einige Studien mit mehrgewichtigen Frauen durchgeführt, so auch aktuell, und spontan würde ich die Titelfrage mit Nein beantworten. Doch weiter gedacht kenne ich natürlich das Vorurteil „Dicke“ seien nicht gesund. So habe ich es vor einiger Zeit auch bei der vorbereitenden Sitzung der Ethikkommission, die jede klinische Prüfung vor dem Beginn auf die medizinische, wissenschaftliche und ethische Vertretbarkeit prüft, gehört, woraufhin ich nur an mir herunter geguckt habe und sagte: ich fühle mich sehr gesund 😉
Umso froher bin ich, dass wir heute mehrgewichtigen Frauen, oder auch starken Frauen -wie wir gerne sagen- die Möglichkeit geben können, an klinischen Prüfungen teilzunehmen. So geben wir und unseren Probandinnen allen mehrgewichtigen Frauen, die später die geprüften Medikamente bzw. Verhütungsmittel anwenden werden, die Sicherheit, dass dieses Arzneimittel auch für sie passend ist.
Wir haben bisher schon vielen mehrgewichtigen Frauen zeigen können, dass sie von ihrer Grundkondition absolut gesund sind: Laborwerte, Vitalwerte (Blutdruck und Herzfrequenz) und Fruchtbarkeit (ein regelgerechter Eisprung). Bei normal- und mehrgewichtigen Frauen gibt es gleichermaßen Abweichungen, die eine Teilnahme als gesunde Freiwillige an einer klinischen Prüfung vereiteln (z.B. durch zu hohen Blutdruck, Blutwerte außerhalb der Norm oder durch fehlenden Nachweis eines Eisprungs). In unserer aktuellen Studie mussten aus diesen Gründen sogar anteilig weniger mehrgewichtige Frauen von der Teilnahme ausgeschlossen werden als es bei den normalgewichtigen Frauen der Fall war.
Für einige mehrgewichtige Teilnehmerinnen war es ein denkwürdiger Moment angesichts der Zahlen auf der Waage zum ersten Mal freudig angeguckt und nicht verurteilt zu werden. Diese Verurteilung und Reduzierung auf das Körpergewicht ist der Schmerz, den Sophie Schwarz in dem oben erwähnten Artikel anspricht. Die blanken Zahlen des BMI (Verhältnis von Körpergewicht zur Körpergröße) sind nur ein Puzzleteil in unserem Leben, aber definieren nicht „die Gesundheit“. Viel wichtiger für das Wohlbefinden ist, wie man sich in seinem Körper fühlt, ob man sich auf ihn verlassen kann, ob man ihn mag; manche haben eben etwas mehr Masse zum Mögen 😉 Dennoch gilt: achten Sie gut auf sich, damit das Mehr an Gewicht nicht zum Gesundheitsrisiko wird.
Gemäß der gesellschaftlichen Konvention der heutigen Zeit knabbern sowohl normal- als auch mehrgewichtige Frauen an vermeintlichen Makeln des äußeren Erscheinungsbildes, aber die Sicht einer Frauenärztin fragt: funktionieren die körperlichen Abläufe der Fruchtbarkeit? – ja, dann gibt es keinen Grund zur Sorge. In diesem Sinne verstehen wir uns mehr als Teil der Body-Neutrality- Bewegung, denn der Body-Positivity-Bewegung. Die Reduzierung einer Frau auf ihre Äußerlichkeit lehnen wir ab, aber dennoch freuen wir uns, wenn unsere Teilnehmerinnen stolz auf ihren Körper sind- egal, ob sie dem gängigen Schönheitsideal entsprechen oder nicht!
Also feiern wir doch einfach die Health-Positivity (der Wikipedia Artikel dazu muss aber erst noch geschrieben werden, denn den Begriff scheint es so gar nicht zu geben ;-))
Tanja Rautenberg
1 Sophie Schwarz von „Sophie’s Safe Space“ in einem Interview mit Carmen Schnitzer in dem Magazin Yoga-Journal. – (2022), Heft 4